Ingrid Ursula Brukienė / Ingrid Ursula Ramm (Marija Juškaitė)

Ingrid Ursula Brukienė / Ingrid Ursula Ramm

Ingrid Ursula Brukienė / Ingrid Ursula Ramm

Marija Juškaitė / Ingrid Ursula Brukienė

 

Fern von der Heimat fühlte ich mich einsam und wie von der Welt abgeschnitten. Nur wer jemals fern von der Heimat war, kennt dieses Gefühl. Ich habe Litauen nie als Heimat empfunden, denn eine neue Heimat gibt es ebenso wenig wie eine neue Mutter.

 

Ingrid Ursula Ramm wurde am 16. Mai 1935 in Königsberg, Ostpreußen, als Tochter von Friedrich und Olga Ramm geboren. Ingrid Ursula hatte vier Brüder: Ulrich, geboren am 18. Februar 1923, Horst, geboren am 28. Januar 1925, Christopher, geboren am 25. Dezember 1927 und Albrecht, geboren am 16. Februar 1929. Der Vater Friedrich Ramm wurde am 29. Januar 1898 die Mutter Olga am 8. Juni 1896 geboren. Der Vater arbeitet auf dem Flughafen, die Mutter war Hausfrau.

Das ruhige und idyllische Familienleben wurde vom Krieg unterbrochen.

Der Beginn des ersten Weltkrieges riss zunächst die älteren Brüder Ulrich, Horst und Christopher aus der Familie. Sie wurden eingezogen. Bald darauf erhielten die Zurückgebliebenen die Nachricht, dass Ulrich am 31. Mai in Afrika gefallen war. Der Vater Friedrich Ramm war nicht fortlaufend an der Front. Nach den Worten von Ingrid Ursula, „fuhr er manchmal weg und kehrte dann wieder zurück, vielleicht musste er etwas inspizieren.“ Nachdem er jedoch im Herbst 1944 fortgefahren war, kehrte er nicht mehr heim.

Olga Ramm blieb mit dem Sohn Albrecht und der Tochter Ingrid Ursula allein in einem Vorort von Königsberg zurück. Albrecht musste bis zum Schluss in Königsberg arbeiten und konnte nicht fliehen. Die Mutter und die Schwester blieben bei ihm.

Als Königsberg 1945 von den Sowjets attackiert wurde, fand die Familie mit vielen anderen Bewohnern der Stadt Zuflucht im Bunker. Dort wurden sie von sowjetischen Soldaten gefunden, hinaus getrieben und nach Hause geschickt. Ihr Haus war schon geplündert, doch Olga Ramm lebte mit den Kindern dort noch einige Zeit. Bald darauf jagte man sie wieder davon. Ihr Bruder Albrecht wurde von sowjetischen Soldaten mitgenommen. Ingrid Ursula hat nie mehr etwas von ihm gehört.

Ingrid Ursula blieb bei der Mutter, und für die beiden begann ein wahrer Leidensweg, denn sie wurden Tag und Nacht verfolgt. Schließlich kamen sie in ein Lager in der Nähe der litauischen Grenze. Dort trafen sie auf zwei Frauen mit dem gleichen Schicksal, die ebenfalls je ein Kind hatten: Frau Badinski und ihr Sohn Günter, Frau Ballo und die kleine Tochter Kristen. Sie blieben von da an zusammen.

Nach dem 9. Mai 1945, als Berlin bereits eingenommen war, erging der Befehl nach Königsberg zurückzukehren. Sie kehrten also zurück, doch dort fanden sie keine Unterkunft, da sie immer gleich von sowjetischen Soldaten davongejagt wurden. Schließlich kamen sie alle zusammen in einem Keller unter.

Kurz darauf begann die Hungersnot. Am 2. Oktober 1945 starb Olga Ramm und kurz darauf starb auch Günter, der Sohn von Frau Badinski, in einem Kinderheim. Ingrid Ursula Ramm hatte nun keine Angehörigen mehr. Sie war zehn Jahre alt.

Ingrid Ursula zog dann mit Frau Ballo aus dem Keller in ein halb verfallenes Haus um. Frau Ballo schlug Ingrid Ursula vor, nach Litauen zu fahren und dort Essen zu erbetteln. Ingrid Ursula fuhr daraufhin mit einem anderen Mädchen los. Als sie einiges Essbares zusammengetragen hatten, fuhren sie wieder zurück, doch auf dem Weg ging ihre Gefährtin verloren. Das zweite Mal fuhr Ingrid Ursula alleine mit dem Zug nach Litauen, dieses Mal nach Kaunas. In der einen Hälfte des Waggons waren Russen, in der anderen deutsche Frauen mit ihren Kindern. Ingrid Ursula erzählt: „Ich war ganz allein und habe mit niemandem gesprochen. Ich schlief in einer Ecke und wachte plötzlich von einem entsetzlichen Gekreische auf. Als ich die Augen öffnete, bot sich mir ein schreckliches Bild: in der anderen Waggonhälfte waren Russen damit beschäftigt, der Reihe nach ihre Triebe zu befriedigen. Die Waggontüren standen offen und die Deutschen wurden nacheinander aus dem Zug geworfen. Ich hatte eine russische Mütze auf und trug russische Stiefel (die hatte ich mir bei einer russischen Familie erarbeitet). Diese Mütze hat mich gerettet, denn die Männer hielten mich für eine Russin. Aber weil die Waggontüren weit geöffnet waren, mit eiskalten Händen bin ich nach Kaunas gekommen. In meine zerstörte Heimat konnte ich nicht mehr zurückkehren. Als ich wieder gesund war, habe ich ein neues, sehr schweres Leben begonnen. Ich war nichts weiter als eine billige Arbeitskraft.“ In Kaunas zog Ingrid Ursula von Haus zu Haus und wechselte oft die Familie. Sie musste vieles durchmachen. Sie wollte unbedingt die Schule besuchen und suchte immerfort nach Möglichkeiten, diesen Wunsch umzusetzen.

Eine Familie, von der sie aufgenommen worden war, kümmerte sich darum, dass sie litauische Dokumente erhält. So wurde aus Ingrid Ursula Marija Juškaite, geboren in Kybartai (heute Rajongemeinde Vilkaviškis). Die 16-jährige arbeitete tagsüber als Kindermädchen und besuchte abends die Mittelschule. Für sie, die Deutsche, war Litauisch das leichteste Fach. Marija beendete die siebte Klasse. Da es damals schwer war Arbeit zu bekommen, ging sie zum damaligen Vollzugskomitee der Stadt Kaunas, gab an, dass sie Waise sei und Arbeit brauche. Daraufhin wurde sie als Zuschneiderin in eine Näherei geschickt. So arbeitete sie, und lernte zugleich weiter. Als sie die Mittelschule beendet hatte, ging sie auf die Schwesternschule Kaunas. Nach Abschluss ihrer Ausbildung erhielt sie eine Anstellung als Kinderkrankenschwerster im Säuglingsheim Kaunas.

Obgleich sie Angst hatte, versuchte sie ihre Angehörigen zu finden. 1959 wandte sie sich an den DRK-Suchdienst-Standort Hamburg und erfuhr bald darauf, dass ihre Tante Leokadia Kasper sowie der Bruder Albrecht noch am Leben waren. Albrecht war in den Ural deportiert worden, dort an Knochentuberkulose erkrankt und daher entlassen worden. Nach seiner Rückkehr wurde er noch drei Jahre behandelt und heiratete schließlich Erika Fischer. Albrecht setzte alle Hebel in Bewegung, um Marija die Ausreise in die BRD zu ermöglichen. Dies erwies sich jedoch als kniffliges Unterfangen, da der KGB starken Druck ausübte. Noch bevor sich die Geschwister wiedersehen konnten, fiel Albrecht am 31. August 1961 einem Verkehrsunfall zum Opfer.

1961 heiratete Marija Juškaitė Algirdas Brukas. Es wurden vier Kinder geboren. Marija bemühte sich auch weiterhin für die ganze Familie um eine Ausreisegenehmigung nach Deutschland, doch alle Anträge wurden abgelehnt. Schließlich verabschiedete sie sich gänzlich von dem Wunsch, nachdem die Familie ein Reihe von Schicksalsschlägen hatte hinnehmen müssen: 1970 ertrank der sechsjährige Sohn Edmundas, 1972 starb die kleine Tochter Erika und 1985 ertrank der Sohn Raimondas im Alter von 23 Jahren. Dem Paar blieb nur der jüngste Sohn Vilis.

Nach Wiedererlangung der litauischen Unabhängigkeit nahm Marija wieder ihren ursprünglichen Namen an und fuhr nach Deutschland. Sie besuchte ihre Schwägerin Erika und erfuhr von ihr, dass ihr Vater Friedrich Ramm 1945 in Elbing (heute Polen) gefallen war. Ihr Bruder Horst war am 4. März 1945 in Mūrnieki (Lettland) gefallen. Sein Grab wurde nie gefunden. Der Bruder Christopher war am 10. Januar 1945 unweit von Althorn, Bezirk Goetzenbruck, Départemenet Moselle, Frankreich gefallen.

So ist heute von der siebenköpfigen Familie von Friedrich und Olga Ramm allein Ingrid Ursula noch am Leben.

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